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Montag, 21 März 2016 13:37 geschrieben von Norman Frischmuth
Publiziert in Einzel-Projektmanagement

Aufwand schätzen (Folge 12)

Die Aufwandsschätzung verlangt eine sauber Vorarbeit, ansonsten verkommt die Planung zum Glücksspiel.

Eine Kuh macht "Muh" ... Viele Kühe machen "Mühe" ;-) Nicht so beim Schätzen. Je mehr Beteiligte desto besser wird das Ergebnis, da die Schätzungen inhaltlich hinterfragt werden. Die Schätzung kennt viele Facetten. Insbesondere das Thema Verhandlung von Aufwand und Motivation durch realistisches Schätzen sollten nicht "unterschätzt" werden!

 

Aufwandschätzung - Bewährungsprobe der Projektplanung

Die Aufwandsplanung ist die Voraussetzung für die Termin- und Kostenplanung. Durch die Aufwandschätzung wird deutlich, wie im Vorfeld gearbeitet wurde: Ist der Projekt-Scope hinreichend formuliert worden? Wurden alle wesentlichen Anforderungen erfasst und wurden diese klar strukturiert und detailliert? Sind fachliche Abhängigkeiten bekannt, um etwaige notwendige Vorarbeiten zu identifizieren? Ist der grundsätzliche Ablauf klar oder existieren noch »schwarze Löcher« im Projektplan?

Je ungenauer und unsauberer bis dorthin gearbeitet wurde, desto schwieriger ist der nächste Schritt. Man könnte also von einer ersten Bewährungsprobe der Projektplanung sprechen. Sind zu viele Fragen ungeklärt oder vage formuliert worden, sollte der Weg nicht fortgesetzt werden. Die Brücke einer ungenauen Vorarbeit könnte zusammenbrechen.

Leider gibt es genau an dieser Stelle die kreativsten Ideen, dieses Gelände zu umgehen und sich damit der kritischen Würdigung der Projektvorarbeit zu entziehen. Damit wird nicht dem Problem der Schätzung entgangen. Vielmehr wird das Problem vom Anfang des Projektes in dessen Mitte oder gar an das Ende gelagert. Ein Zeitpunkt, an dem mit der Projektumsetzung gekämpft wird. Hier brechen dann alle Sünden der Projektplanung gnadenlos zu Tage.

 

Schätzung sinnvoll durchführen

Was genau ist eigentlich schätzen? Eine spontane Antwort wäre, dass auf Erfahrungen und Erkenntnisse der Vergangenheit zurückgegriffen wird. Das allein genügt allerdings nicht. Die erste angemessene Maßnahme ist die ausführliche Klärung des SCOPE als die Auftragsklärung. Damit gewinnt das Schätzobjekt schon einmal mehr Kontur. Das wurde im Beitrag zur Auftragsklärung bereits besprochen. Danach folgt die Projektplanung. Insbesondere die Projektstrukturplanung verleiht dem SCOPE weitere Facetten, die sich sodann auch besser schätzen lassen. Jetzt erst beginnt der seriöse Schätzungsprozess. Hierfür gibt es unterschiedliche Methoden. Im kommenden Beitrag werden zwei pragmatische und einfach anwendbare Möglichkeiten kurz erläutert.

 

Effiziente Methoden für eine erste, schnelle Aufwandschätzung

Zur Erinnerung: Grundlagen einer jeden Schätzung sind:

  • Ein ausreichendes detailliertes Projektziel und
  • Eine erste Gliederung der hierfür notwendigen Arbeitspakete.

Eine Möglichkeit der Schätzung besteht darin, das gesamte Team vor der Pinnwand mit Projektstrukturplan (PSP) zu versammeln und detailliert jede Karte und damit jede Aktivität kurz durchzusprechen. Hierbei ist es wichtig, dass über die Inhalte und Anforderungen sowie die Ergebnisse einer jeden Aktivität einheitliche Meinung herrscht. Wer an dieser Stelle Diskussion unterbindet, verlagert diese letztendlich nur in die spätere Umsetzungsphase. Das Problem hierbei: Bis dorthin wird von falschen oder verfälschten Annahmen ausgegangen, die sich direkt auf die Projektplankosten und Projektplantermine niederschlagen. Besser werden fachliche Kontroversen jetzt im Stadium der Schätzung ausdiskutiert und beigelegt.

Wird im Unternehmen weniger offen auf diese Art und Weise kommuniziert, so gibt es dennoch die Option, unterschiedliche Sichtweisen der Projektbeteiligten aufzudecken.

Im nächsten Schritt werden alle Karten und damit verbundene fachliche Themen durchgegangen und das erwartete Ergebnis festgehalten. Der Aufwand wird von jedem Projektteammitglied geschätzt.

 

Arbeitswert ermitteln

Hierbei ist es wichtig, den ARBEITSWERT zu ermitteln und nicht den Zeitinvest, da dieser durch individuelle Unterbrechungen sehr unterschiedlich ausfallen kann. Ein Mitarbeiter hat evtl. noch andere Projekte oder der nächste Urlaub steht vor der Tür. Da zu diesem Zeitpunkt weder bekannt ist, in welchen Zeitraum diese Aktivität fallen, noch wer diese umsetzen wird, sind Zeitangaben (wir sprechen in diesem Fall von der DAUER) zu ungenau.

Mehr Informationen zu ARBEIT und DAUER können im Bereich Exkurse nachgelesen werden.

Die Arbeitsleistung wird also geschätzt. Die Leistung, die unabhängig von etwaigen Störungen in die Projektaktivität fließen muss. Dabei hilft die Vorstellung, dass man nichts anderes zu hat und hintereinander an der Aktivität arbeiten kann. Wie viele Stunden oder Arbeitstage müssten dann investiert werden?

Diese Einschätzung wird zu jeder Aktivitätenkarte und von jedem Projektteammitglied eingeholt, unabhängig davon, ob er oder sie diese Projektaufgabe später umsetzen wird.

Liegen die Schätzungen nahe beieinander, so wird lediglich der Mittelwert ermittelt.

Gibt es sehr große Schätz-Diskrepanzen zwischen zwei oder mehreren Projektteammitgliedern, ist dies ein deutlicher Hinweis auf Meinungsunterschiede hinsichtlich dessen, was innerhalb der Projektaktivität alles zu tun ist. Das bedeutet, dass diese Karte etwas ausführlicher besprochen werden muss. Augenscheinlich gibt es unterschiedliche Ansichten zu den Inhalten dieser Aktivität. Ist ein Konsens für die Aktivität gefunden, wird die Schätzung noch einmal durchgeführt. Dauert die Diskussion zu lange, so legt der Projektleiter die Inhalte und damit den Maßstab für die Schätzungen dieser Aktivität einfach fest. Denn am Ende muss es weitergehen.

Wird allerdings über jede Aktivität diskutiert, dann sollte der SCOPE noch einmal angeschaut und konkretisiert werden. Wahrscheinlich gibt es bereits hier unterschiedliche Interpretationen und Erwartungen.

Gibt es bei einer Aktivität große Schwierigkeiten, überhaupt einen Schätzwert zu benennen, kann es hilfreich sein, wenn diese Aktivität für die Schätzung noch tiefer fachlich heruntergebrochen wird und die Einzelbestandteile auseinander genommen werden. In der Regel gelingt dann die Schätzung besser. Die Summe aller Einzelergebnisse ergibt dann den Schätzwert der besagten Aktivität.

 

Schätz-Klausur

Im Normalfall sind am Ende des Meetings alle Aktivitäten geschätzt. Für eine höhere Effizienz während der Schätzung können bestimmte Rahmenbedingungen wie z. B., dass die kleinste Schätzeinheit ein halber Tag ist, vorgegeben werden. Auf diesem Wege werden stundengenaue Diskussionen verhindert. Ebenso kann im Falle eines Konsens zu einer Aktivität jede Schätzung innerhalb von 30 Sekunden abgeben werden.

Im Moment geht es nur um eine erste Grobschätzung. Diese kann später verfeinert oder bei der Übergabe an die verantwortlichen Projektressourcen noch einmal verifiziert werden.

Dieses Vorgehen nennt sich Schätz-Klausur und lässt sich problemlos überall dort durchführen, wo es nicht ausschließlich um Expertenwissen geht, sondern um das große Ganze.

Komplexere Aktivitäten, die spezielle Kenntnisse voraussetzen, könnten hier ausgeschlossen und durch die nächste Methode – die Expertenschätzung – nachträglich geschätzt werden.

Nun geht es um interessante Abwandlungen der Schätzklausur sowie um die sogenannte Expertenschätzung.

 

Expertenschätzung

Versammeln sich für die Schätzklausur alle Projektmitglieder und besprechen gemeinsam die zu schätzenden Themen, so wird bei der Expertenschätzung lediglich der Experte oder das Experten-Teilteam mit der Schätzung beauftragt.

Der Vorteil liegt auf der Hand: Es bedeutet weniger Aufwand, da nicht alle Projektmitarbeiter durch die Schätzung gebunden werden. Es ist effizient, weil die Leute mit den notwendigen Erfahrungen und Fähigkeiten die Schätzungen durchführen.

Es ist NICHT zwangsläufig besser! Die Experten-Schätzungen können nur schwer überprüft werden wenn man nicht selber Experte auf dem Gebiet ist. Eventuelle Fehlinterpretationen der Experten lassen sich nicht einfach aufdecken. Im Grunde müsste man hierfür einen anderen unabhängigen Experten befragen.

Weiterhin ist es heikel, wenn die Experten dann auch noch die spätere Umsetzung verantworten. Das Ergebnis KÖNNTE so gewählt sein, um nicht sich selber unnötig unter Druck zu stehen.

Praktischer ist es, wenn beide Schätzformen gemischt werden. Das bedeutet, die fachlich einfachen Themen werden im Team abstimmt und die Spezialthemen werden durch die Experten geschätzt.

 

Sonderformen der Schätz-Klausur

Ein Grundproblem bei der Aufwandschätzung liegt darin begründet, dass die Schätzung Tage oder Stunden von den Projektmitarbeitern abfordert. Das sind dann dummerweise genau die Tage oder Stunden, an denen das Team gemessen wird. Da ist der eine oder andere eventuell nicht ganz frei in der Schätzung, da der Druck der späteren Umsetzung präsent ist. Das könnte dazu führen, dass aufgrund dieser Unsicherheit mehr geschätzt wird.

Wer in dieser Situation anfängt, mit dem Teammitglied zu verhandeln, macht einen Kardinalsfehler. Natürlich kann der Projektleiter ein Projektteammitglied im Rahmen der Diskussion dazu bewegen, den Schätzwert zu verkleinern oder gar an dessen Vorstellung anzupassen. Allerdings hat das mit Schätzen dann nichts mehr zu tun. Der Projektleiter bekommt dann zwar den Projektplan, den er wollte oder den der Auftraggeber erwartet hat, aber leider nicht den, der funktionieren wird. Und das sollte doch die eigentliche Motivation der Schätzung sein. Zudem wird in einem solchem Fall oft eine Gegenreaktion der Teammitglieder beobachtet. Kommende Schätzwerte beinhalten dann häufig deutliche Aufschläge, die vom Projektleiter in langen Diskussionen abhandelt werden müssen. Getreu dem Motto: Ein Rabatt ist gewünscht? Gut. Jeder Rabatt ist möglich, nachdem dieser aufgeschlagen wurde.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet das Schätzen von Komplexitäten, statt von Zeiten. Das entkoppelt mental den Schätzvorgang von der späteren Umsetzung.

 

Schätzen von Komplexitäten

Für diese Schätzung nutzt man Vergleichsaktivitäten oder Vergleichsprojekte. Solchen Referenzen wird eine Grundkomplexitätspunktezahl gegeben, z. B. die Zahl 3.

Nun wird im Rahmen der Schätzung nicht gefragt, wie viel Arbeit in dieser Projektaktivität steckt, sondern wie viel komplexer diese im Vergleich zur Referenzaktivität mit der Komplexität 3 wohl sein wird!

Doppelt so hoch? Zehnmal so hoch? Je höher der Multiplikator eingeschätzt wird, desto gröber sollte das Schätzraster sein.

Wird mit 2-mal, 4-mal begonnen, geht es weiter mit 10-mal und 20-mal, etc.! Warum? Weil es schwer ist, sinnvoll den Unterschied zwischen 18facher oder 19facher Komplexität abzuschätzen. Jedoch nicht zwischen doppelter, zehnfacher oder zwanzigfacher Komplexität.

Viele Unternehmen greifen in diesem Zusammenhang auf die sogenannte Fibonacci-Zahlenreihe zurück, die dieser Logik folgt:

1,2,3,5,8,13,21,34,55,89,144,233, usw.

Hinter dieser Komplexität verbergen sich auch Zeitangaben. Ist die Referenzkomplexität 3 beispielsweise mit 10 Tagen hinterlegt, so ergeben sich bei der Schätzung einer Komplexität von 30 oder nach Fibonacci 34 etwa 100 Tage Aufwand. Und zwar ohne, dass sich die Schätzer während des Schätzen darüber bewusst sind.

Abschließend ist noch anzumerken, dass ehrgeizige Schätzungen durchaus motivierend wirken, es sei denn das Team ist durch andere Projekte bereits sehr überlastet. In dem Fall schlägt Motivation häufig in Demotivation um, die unbedingt vermieden werden sollte.

 

 

Gelesen 5945 mal Letzte Änderung am Freitag, 30 April 2021 12:34
Norman Frischmuth

Über den Autor

Norman Frischmuth

Nach der Berufsausbildung zum Industriekaufmann bei der AEG AG absolvierte Norman Frischmuth das Studium der Betriebswirtschaft mit dem Schwerpunkt Informationsmanagement. Seine Diplomarbeit mit dem Titel „Anreizsysteme für den innerbetrieblichen Wissensmarkt“ bildete die Grundlage für die spätere Entwicklung der webbasierten Projektmanagementlösung Blue Ant. Während und nach seinem Studium war Norman Frischmuth als Berater und später Projektleiter bei unterschiedlichen IT-Unternehmen tätig.

Gemeinsam mit Kollegen gründete er Ende 2001 die proventis GmbH und ist seit diesem Zeitpunkt geschäftsführender Gesellschafter. Kernprodukt der proventis GmbH ist die Multi-Projektmanagemensoftware Blue Ant. In dieser Zeit hat er bei über 100 MPM-Implementierungsprojekten in Deutschland, Österreich und Schweden mitgewirkt, seine Schwerpunkte sind dabei: Project Management Office-Integration und die Etablierung von Ressourcenmanagement in Unternehmen mit 500 - 5000 Mitarbeitern

Seit 2003 engagiert er sich zudem im Hochschul- und Universitätsbereich und unterstützt Seminare sowie eLearning- und Blended-Learning-Veranstaltungen unteranderem an der Humboldt Universität zu Berlin, der Technischen Universität Berlin, der Hochschule für Technik und Wirtschaft und der Beth-Hochschule.

Im Rahmen seines ehrenamtlichen Engagements ist er seit 2009 Mitglied der Regionalleitung Berlin der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement (GPM).

Sein besonderes Engagement gilt der Vermittlung von Wissen und Erfahrungen im Rahmen von Seminaren, Vortragsreihen und der Beratung zum Thema praxisnahes Multi-Projektmanagement.

Seit 2003 unterrichtet Norman Frischmuth an Berliner Universitäten und Hochschulen mit Leidenschaft das Thema Projektmanagement. Seine praxisorientierte Vortragsweise gibt Anlass zum Weiterdenken und Raum für neue Fragen. Seit 2009 ist Norman Frischmuth Mitglied der Regionalleitung der GPM in Berlin.

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